Leukämie-Lichtblick: Neue Medikamente haben vor allem bei chronischer myeloischer Leukämie (CML) die Therapie stark verbessert. Viele Patienten sprechen gut darauf an und haben eine fast normale Lebenserwartung
Die Tabletten sind Nicole R. (46) Lebensversicherung. Erfolgreich bekämpfen sie die Krebszellen, die ihr Knochenmark ständig produziert. Die Anzahl der bösartigen Immunzellen in ihrem Blut ist bereits stark gesunken. Vor einem Jahr diagnostizierten Ärzte bei ihr chronische myeloische Leukämie (CML). In Deutschland erkranken daran jährlich rund 1100 Menschen. "Noch vor zwei Jahrzehnten wären fast alle daran gestorben", sagt Nicole.
Wandel in der Leukämie-Therapie
Zwar gab es damals bereits Therapie-Erfolge mit dem Medikament Interferon Alpha. Auch Heilungen durch das Verpflanzen von Stammzellen waren möglich. Doch nur bei wenigen Patienten gelang es, die CML zu besiegen oder im Zaum zu halten. Mittlerweile ist sie die am besten behandelbare Leukämieform. Auch im Vergleich zu anderen Krebsleiden gibt es kaum eine ebenso effektive medikamentöse Therapie.
Der Wandel kam im Jahr 2001 mit der Zulassung des Wirkstoffs Imatinib. Heute weiß man: Die meisten Betroffenen sprechen gut darauf an, haben eine fast normale Lebenserwartung. Das ergab eine internationale Analyse in der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine. Unter den Patienten mit einem optimalen Therapieergebnis war innerhalb von elf Jahren Nachbeobachtung kein einziger an seiner Leukämie gestorben.
Ein optimales Ergebnis streben Spezialisten heute bei möglichst vielen CML-Patienten an. Insgesamt gibt es dafür fünf Substanzen mit dem gleichen Wirkprinzip: Sie hemmen ein Eiweiß, das den Krebs verursacht. Dessen Wert soll nach einem Jahr Therapie auf ein Tausendstel des Ausgangsspiegels gesunken sein. "Wird dieses Ziel erreicht, stehen die Chancen am besten", sagt Professorin Susanne Saußele, Leiterin der Klinik für Hämatologie und Onkologie der Universitätsmedizin Mannheim.
Schleichende Erkrankung
Chronische Leukämien sind nicht leicht zu spüren, sie schleichen sich langsam ins Leben und bereiten Beschwerden, für die auch harmlose Ursachen infrage kommen (siehe Kasten). Doch irgendwann lassen sich die Anzeichen nicht mehr ignorieren.
Julia J. (31) etwa hatte ständig Nasenbluten und fühlte sich körperlich erschöpft. "Ich hätte mein Fahrrad in die Ecke schmeißen können", erinnert sich die Betriebswirtin, die ihren vollen Nachnamen nicht veröffentlichen möchte. Vor sieben Jahren diagnostizierte ein Hämatologe bei ihr CML in einer frühen Phase.
Nicole R. hingegen befand sich bereits auf dem Weg zu einer lebensbedrohlichen sogenannten Blastenkrise. Dabei schwemmt das Knochenmark massenhaft unreife Immunzellen ins Blut. Zehn Wochen lang hatte sich die zweifache Mutter mit Erkältungen herumgeplagt, hinzu kamen Knochenschmerzen und nächtliche Schweißausbrüche. "Ich dachte, jetzt komme ich in die Wechseljahre, und habe mir einen Frauentee besorgt."
Eines Abends hielt sie es nicht mehr aus, ließ sich in von ihrem Mann ins nächste Krankenhaus bringen. Nach einem Bluttest wurde sie sofort ins Uniklinikum Mannheim verlegt. Dort erhielt sie die Diagnose CML. "Okay, jetzt weiß ich, was ich habe, und erhalte Hilfe", waren Nicoles erste Gedanken.
Medikamente korrekt einnehmen
Sie bekam Blutkonserven und Sauerstoff. Zweieinhalb Wochen blieb sie im Krankenhaus und fing bereits dort an, einen Hemmstoff zu schlucken. Seitdem achtet sie peinlich genau darauf, die Einnahmevorgaben einzuhalten. Sie weiß: Das ist wichtig, damit die Medikamente optimal wirken.
"Schon drei ausgelassene Tabletten in drei Monaten verschlechtern das Ansprechen auf Imatinib", erklärt Fachärztin Saußele. Viele Betroffene nehmen es mit der Therapietreue trotzdem nicht so genau. Bereits die erste große Analyse zum Wirkstoff Imatinib im Jahr 2006 ergab: Nur die Hälfte der Patienten nahm die Tabletten zu Therapiebeginn korrekt ein. Nach 14 Monaten hielt sich nur noch ein Viertel an die festgelegte Medikation.
Eine Studie in 63 Ländern kam vor zwei Jahren zu ähnlichen Ergebnissen – für alle Hemmstoffe. Die Analyse benennt zudem, was die Situation verbessert: eine ausführliche ärztliche Aufklärung zum Beispiel und das gutes Management der Nebenwirkungen.
Denn die fünf Hemmstoffe gegen CML haben viele unerwünschte Effekte. Zu den häufigsten zählen chronische Erschöpfung, Durchfall, Erbrechen, Hautausschlag und Kopfschmerzen.
Der beste Wirkstoffmix
"Es ist wichtig, dass man frühzeitig etwas dagegen unternimmt. Die Patienten sollen das mit ihrem Hämatologen besprechen", empfiehlt Professor Carsten Müller-Tidow, ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik für Hämatologie, Onkologie, Rheumatologie am Uniklinikum Heidelberg. Der Arzt kann einen anderen Hemmstoff verschreiben, die Dosis anpassen und gegebenenfalls Medikamente gegen die Nebenwirkungen verordnen.
Müller-Tidow: "Wir arbeiten bei der Therapieentscheidung eng mit unseren Apothekern in der Klinik zusammen." Sie können mit ihrem pharmakologischen Fachwissen dabei helfen, den besten Wirkstoffmix für den Einzelnen zu finden.
Mit Krebs leben
Nicole R. macht in ihrem Alltag vor allem die Müdigkeit zu schaffen: "Sie tritt plötzlich auf – und so, wie ich sie vorher nie gekannt habe." Am Arbeitsplatz reißt sie in solchen Momenten das Fenster auf, zu Hause legt sie sich kurz hin. Auch wird ihr hin und wieder schwindelig. Als es sie zum ersten Mal erwischte, fuhr sie gerade auf der Überholspur der Autobahn. "Wie komme ich hier wieder herunter", dachte sie und hielt auf dem Seitenstreifen.
Heute weiß sie: Die Schwindelattacken dauern nur kurz und behindern sie kaum. Trotzdem wechselte die gelernte Schreinerin und Bürokauffrau nach diesem Ereignis ihren Job. Jetzt kann sie zu Fuß zu ihrer Arbeitsstätte laufen. Und sie hat ihr Pensum reduziert. "Natürlich habe ich dadurch finanzielle Einbußen, doch auch weniger Druck als vorher."
Julia J. hingegen hat seit ihrer CML- Diagnose nie beruflich zurückgesteckt. Im Gegenteil. Die Verwaltungsangestellte qualifizierte sich im Abendstudium zur Betriebswirtin weiter, büffelte im Urlaub, um die Abschlussprüfung zu bestehen.
"Ich habe mich immer als voll einsatzfähigen Menschen gesehen." Schwierige Phasen kennt aber auch sie. So wie bei vielen Leukämiepatienten waren die Nebenwirkungen zu Beginn der Therapie am heftigsten. "Das Medikament wirkte wie ein Abführmitel, ich hatte Kopfschmerzen und konnte mich kaum bewegen." Nach einigen Wochen aber ging es ihr bereits besser.
Neue Blutzellen
Die Therapie mit Stammzellen birgt die Chance auf Heilung. Die kranken Zellen im Knochenmark werden dabei durch gesunde blutbildende Zellen eines Spenders ersetzt.
"In den letzten Jahren gab es deutliche Verbesserungen", sagt Professor Carsten Müller-Tidow vom Universitätsklinikum Heidelberg. So finde sich nun fast für jeden Patienten ein Spender, und auch Komplikationen wie Infekte habe man besser im Griff.
Dennoch können Probleme auftreten. Daher kommt die Therapie längst nicht für alle Betroffenen infrage.
Seit einem Jahr nimmt Julia J. keine Krebsmittel mehr – in Absprache mit ihrem Hämatologen. Sie erfüllt die Kriterien für einen Absetzversuch. Nach den aktuellen Leitlinien sollen Patienten mindestens fünf Jahre Therapie hinter sich haben. Und die Werte des Eiweißes BCR-ABL müssen mindestens zwei Jahre lang unter einem Zehntausendstel des Ausgangsspiegels liegen.
Optimistische Prognosen
Fachärztin Saußele schätzt, dass rund jeder zweite CML-Patient einen Absetzversuch machen kann. Wie groß die Erfolgsquote ist und was sie erhöht, wird derzeit in Studien erforscht.
Noch ist unklar, ob sich die Krankheit mit Medikamenten tatsächlich heilen lässt – die Betroffenen also auch lange nach dem Therapieende keinen Rückfall erleiden. Dennoch ist CML ein Paradebeispiel dafür, was zielgerichtete Arzneien im besten Fall erreichen.
Bei CML verändert sich fast immer nur ein Gen krankhaft – das ist für Therapien von Vorteil und unterscheidet sie von anderen Krebsleiden. Zwar kommen bei einigen CML-Patienten weitere Mutationen hinzu, doch zumindest eines der fünf Medikamente wirkt fast immer – auch langfristig. "Der Anteil der Patienten, die irgendwann in eine Blastenkrise geraten, liegt bei unter fünf Prozent", sagt Saußele. Wenn das passiert, dann vor allem in den ersten zwei Jahren der Therapie.
Keine Bedrohung mehr
Bei den meisten Krebserkrankungen sind die Mutationen der bösartigen Zellen zahlreicher und variieren zudem stärker von Patient zu Patient. Das gilt auch für viele Leukämieformen (siehe unten). Doch hier gibt es ebenfalls positive Entwicklungen – durch zielgerichtete Wirkstoffe, neuartige Immuntherapien und Fortschritte beim Verpflanzen von Blutstammzellen.
Vielleicht können irgendwann mehr Patienten mit ihrer Leukämie so umgehen und leben wie Julia J.: "Ich betrachte die Krankheit nicht als Bedrohung." Demnächst muss sie wieder zum Arzt, Blutkontrolle. "Ich gehe davon aus, dass alles in Ordnung ist."
Quelle:
https://www.apotheken-umschau.de/